Dienstag, 18. April 2017

adrenalin

ich setze den helm auf und nehme hinter ihm auf dem motorrad platz. ich bin ewigkeiten nicht mehr auf dem bock gesessen. der beifahrer stirbt statistisch betrachtet zuerst, habe ich mal gehört. aber ohne ein bisschen tod im leben ist das leben einfach nur tödlich langweilig.

wir brausen durch die stadt und schließlich aus der stadt heraus ins offene gelände.
"halt dich gut fest", sagt er, und ich schlinge die arme noch fester um seinen brustkorb.
dann geht es steile, kurvige wege bergauf. der schlamm spritzt, als wir durch die schlaglöcher gurken.

er fährt viel zu schnell. ich presse meine schenkel an seine, um nicht aus dem sitz geschleudert zu werden. ich merke, wie heftig mein atem geht. das visier beschlägt. bleib locker, sage ich mich. wenn du locker bleibst, brichst du dir beim fallen weniger knochen. das prinzip katze.

dann sind wir endlich oben.
er schiebt das visier hoch und klopft gegen meines, damit ich es ihm gleichtue.
"30 prozent", sagt er. "das ist die wahrscheinlichkeit, dass wir gleich im dreck landen, wenn wir die abfahrt nehmen."

ich puffe ihn in die seite, was er durch die dicke jacke kaum spüren dürfte.
"das wollte ich gar nicht wissen, du arschloch!"
er grinst nur. er hat sein ziel erreicht. er weiß, dass ich ihm jetzt vertrauen muss, absolut. weil die 30 prozent und der rest eigentlich auch in seinen händen liegen.
"ist doch geil", sagt er nur. "wir haben fast 300 kilo auf der achse und ich kann spüren, wie das hinterrad hüpft. abwärts gehts so richtig rund, pass auf."

bei der abfahrt springt mir der puls fast aus der stirn. immer wieder glitschen wir mit dem hinterrad weg. mit lockerbleiben ist es aus. stürzten wir, dann zusammen, aneinander geklammert.
ich spüre seine belederte linke auf meinen verkrampften händen. eine nanosekunde lang ist das angenehm.
"halt den lenker fest, du idiot!" brülle ich dann.
er tut mir den gefallen, grinst dabei in sich hinein.

eine knappe stunde später halten wir an einem see. ich bin schweißgebadet, aber glücklich. adrenalin macht so verdammt high.
er tippt gegen mein bein, heißt mich absteigen.
als ich stehe, merke ich, wie mir die knie zittern.
"na?" fragt er zärtlich. "gehts?"
ich nicke.
er löst die sicherung und streift mir den helm vom kopf, wuschelt mir durch die haare.
"hattest du angst?"
"ja", sage ich.
"hat man dir aber nicht angemerkt", meint er mit anerkennung in der stimme. "auf jeden fall bist du keine pussy."

wir gehen ein stück durch den wald.
"das ist ja sand hier, wie am meer", sage ich.
er nickt.
"schnupper mal", hält er mir einen blühenden zweig ins gesicht.
"hmmmmm", mache ich.
"was ist das für ein baum?" fragt er mich.
"weiß nich. irgendein moor-baum."
"ein moor-baum?"
"naja, das ist doch fast so moor hier. da drüben stehen birken, also wird das auch sowas sein, was in sauerem boden wächst."

vor einem riesigen, borkigen baum verschränkt er die hände und geht in die knie.
"gib mir deinen fuß, ich heb dich hoch."
ich stemme mich in seine hände, ziehe mich dann in die erste astgabel.
"geh da rüber, auf den ast, der über den see hängt", ordnet er an.
ich robbe vorsichtig auf allen vieren den ast lang und lausche auf jedes knacken. er folgt mir, relaxed aufrecht gehend, fröhlich wippend.
"du und deine körperbeherrschung, das ist wirklich ein phänomen", sage ich.
 er grinst nur geschmeichelt.

dann sitzen wir auf dem ast direkt über dem wasser.
der wind bläst uns eine frische brise ins gesicht. wasservögel flattern herum. unter uns kleine wellen, auf denen blütenblätter schwimmen.

wir trinken jägermeister aus einem flachmann.
mit dem zeigefinger tauche ich in die löcher seiner motorradjacke.
"brauchst mal ne neue, was", sage ich.
"die ist jetzt fast 20 jahre alt. wenns regnet, hab ich so zehn minuten, dann bin ich komplett nass."

wir warten bis zum sonnenuntergang mit dem abstieg.
"willst du langsam oder schnell zurück?" fragt er.
"hauptsache köhlbrandbrücke."
"dann langsam."

die stadt mit ihren lichtern liegt vor uns. es riecht nach hafen und motoröl.
erst kurz nachdem wir die ausfahrt nehmen, beginnt zu es zu regnen.

"war echt cool", sage ich, als ich absteige und den helm in die box lege.
"im sommer machen wir eine ausfahrt in der nacht."
"machs bitte nicht kaputt, indem du jetzt was versprichst, was dann nicht stattfindet."
"ok. dann ist es eben ein wunsch."
"von mir aus."

abends im bett fühle ich mich immer noch schwindelig und aufgedreht. es dauert lange, bis ich eingeschlafen bin.

(aus der erinnerung, 2014)

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